Nachdem das Verwaltungsgericht Stuttgart jüngst entschieden hat, dass die Deutsche Bahn AG (DB) die Kosten für den Bau von Stuttgart 21 in Höhe von mehreren Milliarden Euro alleine tragen muss, sieht sich der ökologische Verkehrsclub Deutschland VCD in der Region Hall-Heilbronn-Hohenlohe (VCD HHH) in seinen jahrelangen Befürchtungen bestätigt: Wegen der explodierenden Kosten von Stuttgart 21 wird der dringend nötige Ausbau der regionalen Schieneninfrastruktur wie der Frankenbahn auf Jahre blockiert bleiben.
UPDATE Juni 2024: Die Deutsche Bahn AG hat in einer Pressemitteilung am 11. Juni 2024 bekannt gegeben, dass sich der Eröffnungstermin für den Tunnelbahnhof Stuttgart 21 erneut mindestens bis Dezember 2026 verschieben wird. Von den meisten Medien unbeachtet hat die DB AG darauf hingewiesen, dass auch dieser Eröffnungstermin nur machbar ist, wenn der Bund in den Haushalten 2025 und 2026 genügend Mittel für Stuttgart 21 und die vollständige Umsetzung des „Digitalen Knoten Stuttgart“ zur Verfügung stellt. Und so das hochriskante Experiment mit der Digitalen Sicherungstechnik tatsächlich auch funktioniert. Zugleich bestätigte die DB, dass diese erneute Verschiebung weitere 100 Millionen Euro zusätzlich kosten wird.

„Was seit Jahrzehnten von den Befürwortern und Verantwortlichen für Stuttgart 21 bestritten wird, ist nun traurige Realität geworden: Stuttgart 21 geht auf Kosten des Bahnausbaus in ganz Deutschland“, stellt VCD-Vorstand Hans-Martin Sauter fest. Darauf hätten unterschiedliche Experten seit Jahren immer wieder hingewiesen. Sauter: „Da auch die DB AG das Geld nur einmal ausgeben kann und zugleich der Bund die Mittel für die Schieneninfrastruktur zusammenstreicht, ist klar: Bei einem Weiterbau von Stuttgart 21 wird für die regionale Schiene wie im Raum Heilbronn oder Hohenlohe kein Geld mehr übrig bleiben.“
Auch der VCD Landesverband Baden-Württemberg hat zu dem Gerichtsurteil in einer Pressemitteilung Stellung bezogen und beklagt, dass wegen Stuttgart 21 schon seit Jahren die Schieneninfrastruktur in ganz Deutschland verfällt.
„Stuttgart 21 ist ein wesentlicher Grund für den bundesweiten Verfall des Schienennetzes, weil die zusätzlichen Milliarden Euro Mehrkosten für Stuttgart 21, die in den letzten Jahren seitens der DB AG ausgegeben wurden, für den Erhalt des Schienennetzes gefehlt haben.“
Marlis Heck, stellvertretende VCD-Landesvorsitzende Baden-Württemberg
Der VCD erwartet von der Bundesregierung nun Aufklärung darüber, aus welchen Kassen die Mehrkosten von Stuttgart 21 finanziert werden sollen und wie es mit dem finanziell immer weiter ausufernden Projekt weitergehen soll. Bis zur Klärung all der offenen Fragen hält der VCD HHH einen Baustopp bei Stuttgart 21 für notwendig. Insbesondere das Projekt „Digitaler Knoten Stuttgart“ mit komplett digitaler Leit- und Sicherungstechnik ohne ortsfeste Signale droht nach Expertenmeinung zum nächsten Fass ohne Boden zu werden mit weiteren Milliardenkosten für den Steuerzahler.
Auch hier ist längst nicht geklärt, wer diese gigantischen Kosten insbesondere bei der notwendigen Ausrüstung der Fahrzeuge mit dem europäischen Zugsicherungssystem ETCS bezahlt. Nicht umsonst hat Landesverkehrsminister Winfried Hermann einen Brandbrief an die Bundesregierung und die Deutsche Bahn AG geschrieben, wie unter anderem die Tagesschau berichtet. Hermann befürchtet, dass die DB beim Ausbau des Digitalen Knotens Stuttgart nun spart und der Kellerbahnhof Stuttgart 21 in der Konsequenz erst recht nicht betriebsfähig wird.

Insofern ist nach VCD-Meinung das Gerichtsurteil auch kein Grund zum Jubeln für das Land Baden-Württemberg. „Wir halten es für naiv, unverdrossen den Weiterbau von Stuttgart 21 und eine rasche Inbetriebnahme des digitalen Knotens zu fordern, wenn überhaupt nicht klar ist, woher die Milliarden für diese irrsinnig teuren Projekte kommen und wann diese jemals vollendet werden sollen.“
„Am Ende passiert: Nichts!“
VCD-Vorstand Hans-Martin Sauter spricht im Interview über die Befürchtungen des VCD HHH zum Ausbau der Schieneninfrastruktur in der Region.
Herr Sauter, wie bewertet der VCD die aktuelle Situation nach dem Stuttgarter Gerichtsurteil?
Durch das Gerichtsurteil zur Finanzierung von Stuttgart 21 ist die sowieso schon katastrophale finanzielle Situation der DB AG mit einem Schlag noch prekärer geworden. Nicht nur, dass der Bund langfristig die dringend benötigten Mittel in zweistelliger Milliardenhöhe für die Sanierung des Schienennetzes nicht bereitstellen kann. Auch die aktuellen Etatkürzungen im Rahmen der derzeitigen Haushaltsdiskussion werden die geplanten Sanierungs- und Ausbauprojekte auf der Schiene stark verzögern oder gar komplett zum Erliegen bringen. Dazu zählen vor allem die sogenannten Generalsanierungen der hochbelasteten Hauptverkehrsstrecken wie jetzt im Sommer die Riedbahn Mannheim – Frankfurt oder im nächsten Jahr Berlin – Hamburg. Diese Kosten gehen jetzt schon in die Milliarden und sind nicht gedeckt. Aktuell streiten Bund und Länder zudem darüber, wer etwa die Kosten für die erforderlichen monatelangen Schienenersatzverkehre mit Bussen tragen soll. Auch die gigantischen Kosten für die monatelange Umleitung von Güterzügen sind nicht gedeckt und könnten vielen Güteverkehren den Todesstoß versetzen.

Welche Projekte hält der VCD für gefährdet?
Im Prinzip alle, für die aktuell keine konkrete Finanzierung steht. Dazu gehört vor allem der gigantisch teure Pfaffensteigtunnel, der zur Anbindung der Gäubahn an den Kellerbahnhof notwendig ist, da die bestehende Strecke ohne Not ja dauerhaft von Stuttgart Hbf abgehängt werden soll. Doch welche Landesregierung will sich auf Dauer leisten, einen Großteil des südlichen Baden-Württembergs von einer Anbindung an die Landeshauptstadt abzuhängen?
Wie steht es um den „Digitalen Knoten Stuttgart“?
Auch die Finanzierung des Ausbaus des sogenannten „Digitalen Knotens Stuttgart“ mit der digitalen Leit- und Sicherheitstechnik ETCS, die in den zu engen Tunnelröhren von Stuttgart 21 zwangsläufig unverzichtbar ist, ist nach Aussage von Insidern derzeit noch nicht gesichert. Der Gesamtaufwand für die Ausrüstung sämtlicher Gleise rund um Stuttgart bis weit in die Region hinein und aller darauf fahrenden Züge kann noch gar nicht konkret kalkuliert werden. Auch die DB AG weiß nicht, was das am Ende alles kostet und ob das jemals funktionieren wird. Hier ist ein zusätzliches Finanzierungsdesaster in Milliardenhöhe durchaus möglich.
Welche Auswirkungen befürchten Sie auf die Region Heilbronn-Franken?
Verlierer bei diesem Kampf ums Geld wird wie seit Jahrzehnten die Region Heilbronn-Franken und der gesamte ländliche Raum sein. Hier gibt es besonders viele dringend notwendigen Projekte, die jedoch seit Jahrzehnten mangels Finanzen vernachlässigt werden und auf Sanierung und Ausbau warten. Es ist abzusehen, dass viele Sanierungs-, Elektrifizierungs- und Reaktivierungsprojekte von Strecken, die wie die Zabergäubahn in der Verantwortung der DB AG liegen, auf Jahre hinaus nicht realisiert werden können. Die überalterte Infrastruktur aus Stellwerken, Gleisen, Weichen und elektrischer Oberleitung (soweit überhaupt vorhanden), die in der Region seit Jahren regelmäßig für Verspätungen und Ausfälle sorgt, wird auch weiterhin einen zuverlässigen und sicheren Bahnbetrieb behindern.

Was wäre denn in der Region dringend zu tun?
Seit Jahrzehnten diskutiert die Politik über den Ausbau der Frankenbahn, es wird ein Gutachten nach dem anderen produziert, am Ende passiert jedoch: Nichts! Erst jüngst hat Landrat Norbert Heuser vom Landkreis Heilbronn wieder einmal ein ernüchterndes Fazit nach dem letzten Frankenbahn-Gipfel vor einem Jahr gezogen. Wir brauchen auf der Frankenbahn mehr Kapazität durch moderne Stellwerkstechnik, kürzere Blockabstände, mehr Überholgleise, moderne Bahnsteige und zusätzliche neue Haltepunkte, um die Bahn wieder zu den Menschen zu bringen. Das Gleiche gilt auch für die Hohenlohebahn, wo zudem noch dringend die Lücke in der elektrischen Oberleitung zwischen Öhringen und Schwäbisch Hall-Hessental geschlossen werden muss. Auf den ganzen nichtelektrifizierten Strecken der Westfrankenbahn zwischen Crailsheim, Bad Mergentheim und Aschaffenburg sieht es auch ganz düster aus, ebenso auf der Odenwaldbahn zwischen Eberbach und Darmstadt. Auch die Kraichgaubahn von Heilbronn nach Karlsruhe muss für einen reibungslosen S-Bahn-Verkehr dringend wieder durchgehend zweigleisig ausgebaut werden, genauso wie die Murrbahn oder die Strecke von Heilbronn über Sinsheim nach Heidelberg. Die Liste ist endlos und trifft so gut wie alle ländlichen Räume in ganz Deutschland.
Und warum geschieht das alles nicht?
Weil seit über 20 Jahren nur darüber geredet wird, in der Realität aber das Geld, die Planungskapazitäten und der politische Wille fehlen. Und Stuttgart 21 zugleich wie ein Staubsauger sämtliche verfügbaren Mittel aufsaugt und mit den ganzen unsinnigen Tunneln das deutsche Schienensystem immer teurer und ineffizienter macht.
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